Provokation auf der Bühne


Hass aus dem Netz vorgelesen: Schülerprojekt irritiert Publikum

Theater 2016Das ist widerwärtig und nicht zu ertragen, was diese Schüler da bieten. Einfach nur geschmacklos.“ Eine ältere Dame meint diese Äußerung, die sie recht laut kundtut, offensichtlich ernst. Vor ihrer Gemütsäußerung haben schon mehrere Besucher die Veranstaltung im Saal des Fördermaschinenhauses im Energeticon verlassen – manche freiwillig, andere nach Aufforderung durch das „Saalpersonal“.

Die jungen Schüler vom Q2-Literaturkurs sowie dem Kurs Darstellung und Gestaltung (DG, 10. Klasse) der Gustav-Heinemann-Gesamtschule (GHG) auf der Bühne lassen sich unterdessen nicht beeindrucken und rezitieren weiter ihre Sätze in die Mikrofone. Dann jedoch wird es auch Schulleiter Martin May zu bunt, der mit hochrotem Kopf die Rampe erklimmt und „dem Spuk ein Ende bereitet“.

Was war geschehen? Was hat die Stimmung so zum Kochen gebracht? Filme und Improvisationstheater waren angesagt bei der Präsentation und Abschlussausstellung des seit zwei Jahren andauernden Projekts „Festplatte Kohle“, an dem neben den Schülern der Gustav-Heinemann-Gesamtschule auch das Gymnasium Herzogenrath teilgenommen hatten.

Intensiv auseinandergesetzt haben sich die 50 Q2-Theather 2016 und DG-Schüler der GHG in einem Filmprojekt – begleitet vom Aachener Filmemacher Kai Gusseck – mit dem Schicksal vieler in Alsdorf lebender früherer „Gastarbeiter“. Vornehmlich aus der Türkei waren zu Beginn der 1960er Jahre viele Männer mit und ohne Familien gekommen, um als Bergleute den Arbeitskräftemangel zu beheben.

In Filminterviews berichten sie, aber auch ihre Kinder, die heute als Erwachsene in die Gesellschaft integriert sind, über ihre Erfahrungen, Gefühle, Ängste und Verunsicherungen der ersten Zeit in Deutschland: „Ich war damals sehr traurig“, erinnert sich eine heute Mittfünfzigerin, „wir hatten hier kein Haus, sondern nur noch eine Wohnung. Und in der Silvesternacht hatten wir furchtbare Angst wegen der Knallerei. Zwei Monate später war dann auch noch Karneval. Da haben wir uns gar nicht mehr auf die Straße getraut.“

Manche Erinnerungen muten aus heutiger Sicht amüsant an, doch die Trennung von der Familie, der Heimat, fiel besonders den Kindern schwer. Heute, so berichten viele der „Deutschen mit Migrationshintergrund“ im Film, sei das Heimweh verschwunden. Und: „Wenn wir in der ‚Heimat‘ sind, sind wir dort auch die Ausländer.

Noch von diesen Schicksalen bewegt, wurden die Besucher im Energeticon dann recht unsanft aus ihren Emotionen gerissen. Denn bevor es weiterging, erklärte der Leiter der Veranstaltung, Theaterpädagoge Baris Öztürk, dass nicht alle das folgende Theaterstück mitverfolgen dürften: „Nur diejenigen, die ihren deutschen Personalausweis dabei haben, können bleiben. Der Rest geht jetzt bitte.“ Es folgten Kontrollen und zahlreiche Ausweisungen aus dem Saal. Erster Protest regte sich, der eine oder andere Inhaber eines deutschen Passes verließ aus Solidarität ebenfalls den Saal.

Die meisten blieben jedoch in der Erwartung des angekündigten Improvisationsstückes – und wurden auf eine harte Probe gestellt: An drei Mikrofonen äußerten Schüler übelste Verunglimpfungen über Ausländer und Flüchtlinge, drückten mit unbeteiligter Stimme Verachtung für alles Fremde aus, priesen Deutschtum und Stolz auf die nationale Identität. Die monotonen, den Geist vernebelnden rechtsradikalen Parolen und Diskriminierungen wurden vielen Zuschauern zu viel. Einem Grummeln folgte das Verlassen des Saals. Andere, wie die Dame eingangs, drückten Protest aus: „Widerwärtig und nicht zu ertragen.

Bis ein fassungsloser Schulleiter May auf der Bühne stand: „Hört auf, wir wollen diesen Mist nicht hören!“ Dass solche diffamierenden Äußerungen in sozialen Netzwerken an der Tagesordnung sind, war für May schon schwer zu ertragen. Dass man sie aber auch auf Schulhöfen hört, ließ den Pädagogen um Fassung ringen. DG-Lehrerin Hilke Buck, die mit Literatur-Lehrerin Sibel Yilanci das Projekt begleitete, stellte sich vor die Schüler: „Wir sind froh, dass das Publikum so reagiert hat. Sich im Internet auszulassen ist leicht, aber so etwas auf der Bühne vorzutragen, ist auch den Schülern nicht leicht gefallen.“Das Improvisationstheater – ebenfalls keine leichte Kost – fand indes vor dem Saal statt, unter Leitung von Baris Öztürk: Die „Ausgewiesenen“ wurden angehalten mitzumachen. Grundtenor: Auch Ausländer oder Bürger mit Migrationshintergrund sind nicht vorurteilsfrei.

Am Ende durften wieder alle in den Saal und Öztürk erklärte: „Wir wollten provozieren. Die, die das schreiben, was die Schüler vorgelesen haben, meinen das ernst. Die Schüler hier sind natürlich keine Neonazis – sonst würden sie ja nicht mit mir arbeiten.“ Und: „Sie hier im Saal halten diese Sprüche nicht mal fünf Minuten aus – wir hören das da draußen ständig!“

Entnommen aus Aachener Zeitung vom 18.3.2016.